Saturday, November 5, 2011

Vom ”theodiscus“ zum ”deutsch“

Vom ”theodiscus“ zum ”deutsch“
Forschungen zum Ursprung unserer Sprache
(Wochenpost Nr 30/1988, S. 8)

Die deutsche Sprache gehört laut UNESCO-Statistik gemeinsam mit Chinesisch, Hindi, Englisch, Spanisch, Russisch, Arabisch, Bengali, Portugiesisch, Französisch und Japanisch zu den elf am weitesten verbreiteten Sprachen, die von zwei Dritteln der Weltbevölkerung gesprochen werden. Die Edition etymologischer Untersuchungen zum Wortschatz der deutschen Sprache hat der Akademie-Verlag Berlin für dieses Jahr angekündigt — mit drei Bänden erstmals in derartigem Umfang.
Das lateinische ”theodiscus“ und das althochdeutsche ”thiutisk“ lassen verwandtschaftliche Beziehungen vermuten. Beide Wörter stehen für ”die Volkssprache (und nicht lateinisch) sprechend“ beziehungsweise für ”zum eigenen Volk gehörig“. Die alten Formen sind die frühesten Zeugnisse für das heute gebräuchliche ” Deutsch“. Diese Entwicklung vollzog sich über verschiedene sprachliche Stufen.
Den Anfängen deutscher, heute gesprochener und geschriebener Wörter ging ein Team des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR in einem speziellen Forschungsprojekt nach, das jetzt abgeschlossen wurde. In ihren etymologischen Untersuchungen klärten die Wissenschaftler Fragen wie: Was heißt dieses Wort und welchen Ursprung hat es?
Die Etymologie bemüht sich, Herkunft, Alter und Verwandtschaft der Wörter aufzudecken. Untersucht wird, wie sich Form und Bedeutung im Laufe der Jahrhunderte entwickelten. Ältester feststellbarer Sinn und erkennbare Form sind Ziel dieser Bemühungen. Über verschiedene Stufen, vom Neuhochdeutschen über das Mittelhochdeutsche und Althochdeutsche wird die Spur in die germanische Vergangenheit zurückverfolgt. Dabei gelingt es oftmals, verwandtschaftliche Beziehungen zu den anderen indoeuropäischen Sprachen deutlich zu machen, erläuterte Dr. Wolfgang Pfeifer, der Leiter des Forschungsteams. Bei dieser Sprachgruppe ähneln sich Wortschatz und Formenbildung. Ein Vergleich dieser Wörter läßt oftmals die Rekonstruktion indoeuropäischer ”Urformen“ zu, von denen alle Wörter abstammen.
Als Beispiel führte Dr. Pfeifer die Herausbildung des heutigen Wortes Schnee an. Verwandtschaftliche Beziehungen mit dem englischen ”snow“, dem schwedischen ”snö“ und dem niederländischen ”sneew“ sind auch für den Laien nicht zu übersehen. Der Fachmann zieht nun noch frühere, etwa vor 1000 Jahren gültige Sprachformen hinzu, z. B. Althochdeutsch (sneo), Altenglisch (snaw) und Gotisch (snaiws), und schließt unter Berücksichtigung bestimmter lautgesetzlicher, Entwicklungen auf eine germanische Grundform ”snaigwa“, aus der alle genannten Wörter hervorgegangen sein dürften. Vergleicht man weitere Wörter für Schnee wie ”sneg“ im Russischen, ”sniegas“ im Litauischen und (ohne anlautendes ”s“) ”nix“ im Lateinischen, so kann eine gemeinsame indoeuropäische Form ”sneiguh“ rekonstruiert werden, aus der sich auch die entsprechenden Verben wie ”schneien“ entwickelt haben.
Mehr als 8 000 Stichwörter — der etymologische Grundwortschatz des Deutschen — wurden in den zurückliegenden zehn Jahren von den Berliner Wissenschaftlern untersucht. Insgesamt konnten sie in de 8000 Artikeln rund 21 600 Wörter analysieren. Sie berücksichtigten dabei den Wortschatz der Literatursprache, auch allgemein bekannte Begriffe der Fachsprachen, geläufige Fremdwörter sowie Ausdrücke der überregionalen Umgangssprachen. Die zehn Forscher um Dr. Pfeifer nutzten für diese Untersuchungen unter anderem Archivmaterial zum ”Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm und zum Goethe-Wörterbuch sowie Sammlungen zum Wortschatz von Marx und Engels.
Auch Begriffe, die erst mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und mit zunehmender internationaler Kommunikation aufkamen, sind etymologisch interessant. So ist ”Astronautik“ — synonym für die Wissenschaft von der Raumfahrt — eine um 1927 von einem französischen Romancier aus griechischen Elementen gestaltete Wortschöpfung.
Gudrun Janicke

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